Demokratiebildung und Chancengerechtigkeit im Fokus

Unter dem Titel „Alle dabei!“ standen auf der zweitägigen BAG-BEK-Frühjahrstagung an der EH Freiburg die Demokratiebildung und die Chancengerechtigkeit in der Kindheit im Fokus – ein gerade angesichts der jüngsten Entwicklungen hierzulande und in der Welt aktuelleres Thema denn je.

 


kirchhoffSo unterstrich in Ihrer Begrüßung auch die Rektorin der EH Freiburg, Prof.in Dr.in Renate Kirchhoff: „Angesichts des rechtspopulistischen Sprechens und Konstruierens ist die frühe Demokratiebildung und Chancengerechtigkeit von zentraler Bedeutung für unsere Gesellschaft.“ Demokratie müsse ständig neu erarbeitet werden und es sei eine weitere Sensibilisierung für die Chancengerechtigkeit notwendig. Dies gelte insbesondere auch im Hinblick auf eine verfestigte Armut in unserem Land, die mit einem deutlichen Gesundheits- und Bildungsrisiko für Kinder einhergehe. „Uns geht ganz viel verloren durch mangelnde Durchlässigkeit“ sagte die Rektorin und wies auf die Wirksamkeit und auch hohe volkswirtschaftliche Rendite von früher Bildung hin. „Gemeinsam müssen wir politische Kraft für Demokratiebildung und Chancengerechtigkeit entfalten“ forderte sie und unterstrich die wichtige Rolle der BAG-BEK als bundesweite Plattform für Vernetzung und Kooperation.

tinaDiesen Faden nahm die BAG-BEK-Vorsitzende Prof. Dr. Tina Friederich dankend auf: „Ziel der BAG-BEK ist es, die ganz unterschiedlichen Akteure im System der frühen Bildung zu vernetzen, um gemeinsam an Zukunftsthemen zu arbeiten, Perspektiven aufzuzeigen und politisch wirksam zu werden.“ Angesichts der aktuellen Lage und reaktionärerer Tendenzen gebe es „mehr zu tun denn je“ und so müsse aktuell auch noch einmal grundsätzlich verdeutlicht werden, was eine gute frühkindliche Bildung auf Grundlage der Kinderrechte tatsächlich ausmacht.
 

"Kinder nicht beschämen und ausgrenzen"

weltzienGrundsätzlich wurde auch Prof. Dr. Dörte Weltzien gleich zu Beginn ihres Auftaktvortrages und sie appellierte: „Wir müssen das hohe Gut, das wir uns mit unserer Demokratie erarbeitet haben, schützen und erhalten.“ Sie zeigte in der Folge auf, wie Partizipation und Demokratiebildung von Anfang an in der KiTa verankert werden können – mit den Kinderrechten als Grundlage und normative Rahmung für die pädagogischen Beziehungen. Ziel müsse es unter Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit sein, Kinder zu starken, selbstbewussten, reflektierten und dialogbereiten Menschen zu bilden und zu erziehen. Frühkindliche Bildung finde dabei immer „in einem Spannungsfeld zwischen Verbundenheit und Autonomie“ statt.

Wie Dörte Weltzien weiter ausführte, drohe in der KiTa zumeist dann ein Hinweggehen über die Kinderrechte und in der Folge grenzverletzendes Verhalten, wenn Kinder sich nicht an Regeln halten. Angesichts der komplexe Strukturen, Regeln und Abläufe in einer KiTa und einem „Ordnungssystem aus Macht, Schuld und Strafe“, müssten Fachkräfte sich bei Regelverletzungen jedoch zunächst einmal folgende Fragen stellen:

  • Weiß das Kind, was wir meinen?
  • Will das Kind machen, was wir wollen?
  • Kann das Kind machen, was wir von ihm wollen?

 

Perspektiven der Kinder bewusst wahrnehmen

Anhand von Fallvignetten zeigte die Pädagogik-Professorin auf, wie es im KiTa-Alltag immer wieder und insbesondere in Schlüsselsituationen wie Essen oder Garderobe zu einem „Missmatch“ von Erwartungen und Regeln der Erwachsenen und dem Verhalten der Kinder komme. „Die pädagogische Kunst ist es, ein Missmatch zu erkennen, aufzugreifen und gemeinsam zu bearbeiten“ unterstrich sie und fuhr fort: „Die Weltbegegnung muss für das Kind immer eine positive bleiben und wir dürfen Kinder nicht beschämen oder ausgrenzen.“

Für den ressourcenorientierten Umgang mit solchen Missmatch-Situationen stellte Dörte Weltzien die von ihr mit entwickelten und im Projekt „QuebIn“ erprobten Reflexionskarten „GiNA“ vor, die mit der „Ich“- „Du“- und „Wir“-Perspektive arbeiten und positive Interaktionen und Beziehungen in der KiTa zum Ziel haben. „Vermittelt“, so Dörte Weltzien, „werden hier keine Rezepte, sondern Ideen für demokratische Prozesse und das Abklären von unterschiedlichen Bedürfnissen“. Es gehe um die Arbeit an der Haltung der Fachkräfte und darum, dass Kind zu verstehen und die Beziehung als Kern der pädagogischen Arbeit zu sehen. „Es fängt in den Köpfen und mit einem Perspektivwechsel hin zu den Kindern an“ resümierte sie.
 

Chancengerechtigkeit in der Perspektive von Student*innen

naat sommerWelche Rolle spielt die Chancengerechtigkeit in kindheitspädagogische Studiengängen bzw. welche Perspektive haben die Student*innen darauf? Dieser Frage sind Prof. Dr. Robert Baar von der Universität Bremen und Prof. Dr. Roswitha Sommer-Himmel von der EH Nürnberg in einem Forschungsprojekt mit Stipendiaten der von der Stiftung der deutschen Wirtschaft geförderten „Nachwuchsinitiative chancengerechte Kita“ (NicK) näher nachgegangen. Einführend stellten sie die Chancengerechtigkeit als „Leitmotiv der frühkindlichen Bildung“ und als „bildungspolitische Hoffnung“ dar, über eine präventiv und kompensatorisch wirkende KiTa allen Kindern gleiche Startbedingungen für die Schullaufbahn zu bieten.

Das NicK-Stipendium unterstützt Student*innen der Kindheitspädagogik im Hinblick auf eine zukünftige Leitungstätigkeit, sich zu professionalisieren - so z.B. sich selbst und Mitarbeiter*innen zu führen, die Organisation weiter zu entwickeln und dabei mit Heterogenität in all ihren Facetten umzugehen. In der quantitativ und qualitativ ausgerichteten Studie wurden 37 Stipendiaten und eine Kontrollgruppe nun dahingehend befragt, welches Verständnis sie einerseits von Chancengerechtigkeit haben sowie andererseits, welchen Handlungsbedarf und welche Handlungsoptionen sie sehen.

Wie Robert Baar und Roswitha Sommer-Himmel ausführten, konnten in der Studie drei Idealtypen rekonstruiert werden: Die größte Gruppe umfasste mit 19 eindeutigen Vertreter*innen den „aktiv handelnden Typus“. Diesen geht es darum „Rahmen zu schaffen und Raum zu geben“ und darum, über bildungspolitische Aktivitäten Strukturen zu schaffen bzw zu ändern. Betont wird von diesem Idealtypus die kompensatorische Funktion von KiTa, allerdings sind dabei nur wenige konkrete Ansätze für die pädagogische Praxis vorhanden. Daneben wurde noch ein „passiv-wissender“ und die Verantwortung eher abchiebender Typus sowie erstaunlicherweise sogar ein „passiv-ausblendender“ Typus identifiziert, dem aber nur 4 Stipendiaten „uneindeutig“ zugeordnet werden konnten.

Klar wurde in der Studie, dass die Vertreter*innen des „aktiv handelnden Typus“ sich später eher nicht in der KiTa-Praxis, sondern vielmehr in Führungspositionen im KiTa-System sehen, um Strukturen zu schaffen oder ändern zu können. Als deutliche Effekte des NicK-Stipendiums konnten in der Studie „Aufbruchstimmung“ und „Vernetzung“ sowie eine Entwicklung der personalen Kompetenzen festgestellt werden, wohingegen das fachliche Wissen eher über die Studiengänge vermittelt wurde.
 

Rundgang durch das Quartier

Im Anschluss an die beiden Auftaktvorträge konnten sich die Tagungs-Teilnehmer*innen in fünf verschiedenen Workshops intensiver über die verschiedenen Aspekte und konkreten Förderungsmöglichkeiten von Chancengerechtigkeit und Demokratiebildung in der KiTa und im Ganztag informieren und austauschen.

podium
Mit einem Quartiersrundgang durch den Freiburger Stadtteil Weingarten, der durch eine hohe Migrationsquote und eine hohe Quote von Transferleistungs-Empfängern sowie auch AfD-Wähler*innen geprägt ist, endete der erste Tagungstag, um am zweiten Tagungstag direkt hieran anzuknüpfen: Unter der Moderation von BAG-BEK-Vorstandsmitglied Ulrike Glöckner gaben die Projektmanagerin Elina Pfeiffer, die KiTa-Leiterin Silvia Nippes sowie der Schulleiter Johannes Schubert Einblicke in ihre Zusammenarbeit mit äußerst heterogenen Eltern und Kindern. Sie stellten unisono die Partizipation als Schlüssel der Demokratiebildung dar und zeigten auf, wie wichtig es ist, die jeweiligen sozialen Kontexte und Bedürfnisse der Kinder und Familien ernst zu nehmen und mit ihnen in einen gleichwürdigen Dialog zu treten. Deutlich wurde aber auch: „Gleichwertigkeit heißt Unterschiede zu machen!“
 

Gemeinsam wirksam werden

„Gemeinsam wirksam werden“ – unter diesem Motto hat die BAG-BEK mit einer Förderung der Robert Bosch Stiftung im vergangenen Jahr seine (politische) Lobbyarbeit forciert. BAG-BEK-Vorstandsmitglied Prof. Dr. Ina Kaul gab den Teilnehmer*innen einen Überblick zu den einzelnen Aktivitäten und einer Auftakttagung mit ausgewählten Stakeholdern in der Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung in Berlin. Neben der strategischen Vernetzung und Kooperation war es hier auch nicht zuletzt aufgrund des Verpuffens ungezählter Positionspapiere aus dem Feld das Ziel, die Mechanismen der politischen Lobbyarbeit besser zu verstehen und zu nutzen. „Wir müssen unsere Kräfte besser bündeln und eine geballte Schlagkraft entfalten“ resümierte Ina Kaul. Jüngste Beispiele dafür waren eine gemeinsame Stellungnahme zu Veronika Verbeeks Aufruf "Kindeswohl im Blick" sowie der Gemeinsame Appell von GEW, Trägerverbänden und vielen weiteren Akteuren der frühkindlichen Bildung im Hinblick auf die Koalitionsverhandlungen.

Zum Abschluss der BAG-BEK-Konferenz tagten fünf thematische Arbeitsgruppen zur „Berufspolitik“, „Fachberatung“, „Forschung“, „Gesundheit“, „Kinder von 6 bis 12 Jahren“ sowie „Kita-Sozialarbeit“ um sich über aktuelle Entwicklungen auszutauschen und gemeinsame Arbeitsvorhaben weiter voranzutreiben.

Die BAG-BEK-Tagung bot zwei Tage lang spannende inhaltliche Inputs und vor allen Dingen auch einen intensiven interdisziplinären Austausch der Teilnehmer*innen. Einen tollen Rahmen boten dabei die wunderbar sanierten und kommunikativ gestalteten Räumlichkeiten der EH Freiburg. Ein großer Dank der BAG-BEK gilt Prof. Dr. Maike Rönnau-Böse und ihrem Team von der EH Freiburg für die perfekte Tagungsplanung vor Ort.

 

Präsentation Dörte Weltzien

Präsentation Baar / Sommer-Himmel
 

Karsten Herrmann