Mindestanforderungen in der Frühen Bildung - Stellungnahme der BAG BEK e.V. im März 2023
Zum Fachkräftemangel in Kitas und wie mit ihm umgegangen werden sollte
Der Fachkräftemangel in Kindertageseinrichtungen stellt nicht nur die Fachkräfte selbst, sondern auch Leitungen, Träger, Politik, Eltern, Kinder und die Wirtschaft vor große Herausforderungen. Überall wird nach Lösungen gesucht, während zeitgleich Öffnungszeiten verkürzt, Gruppen geschlossen oder Einrichtungen gar nicht erst geöffnet werden. Vielerorts ist das Personal durch das ständige Abfedern des Mangels am Limit, wird krank oder verlässt das Arbeitsfeld Kita. Träger und Politik erwägen jede erdenkliche Möglichkeit, um an Personal zu kommen.
Was könnten Kitas leisten, wenn sie entsprechend gestaltet wären?
Nach wie vor wird das Wissen über Bedingungen und Konsequenzen guter pädagogischer Qualität in Kitas nicht als Grundlage für politische Entscheidungen und Ideen zum Umgang mit dem Fachkräftemangel genutzt. Das zeigen Vorschläge für den Einsatz von Rentner:innen, ukrainischen Geflüchteten oder anderen nicht-pädagogisch qualifizierten Personen für die Kitas (z.B. DIHK Präsident Adrian, Bayerische Sozialministerin Scharf). Wenn Kitas aber eine hohe Qualität erzielen, hat dies positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder – das belegen zahlreiche Studien (siehe hierzu im Überblick KIuczniok, 2018, Anders & Roßbach, 2019). Dazu gehören nach internationalem Forschungsstand zwingend gut ausgebildete Fachkräfte, ein guter Personal-Kind-Schlüssel und eine angemessene Gruppengröße (Viernickel, 2021). Aber auch gute Arbeitsbedingungen tragen zur Erzielung einer hohen Qualität bei. Wie der Nobelpreisträger Heckman ermitteln konnte, zahlen sich Investitionen in die frühe Bildung bis ins Erwachsenenalter aus – wenn junge Menschen bessere Schulabschlüsse erzielen, mit höherer emotionaler Stabilität ihr Leben meistern, mehr Geld verdienen und somit mehr Steuern zahlen (Roßbach & Spieß, 2019).
In den letzten Jahren gab es zwischen Wissenschaft und Fachpolitik eine Verständigung darüber, welche Bedingungen es für eine hohe Qualität in Kindertageseinrichtungen braucht (BMFSFJ & JFMK, 2016; Viernickel et al., 2016). Gesetzesinitiativen konnten diesen Anspruch aus verschiedenen Gründen jedoch nicht umsetzen. Vor diesem Hintergrund scheint es an der Zeit, Mindestanforderungen zu formulieren, um Kinder, Fachkräfte und Eltern vor Schäden zu schützen
Mindestanforderungen für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen
Es ist deutlich geworden, dass empirisch belegte Einflussgrößen auf die Qualität in Kitas nicht ignoriert werden dürfen, vor allem nicht bei der pädagogischen Qualifikation des Personals. Somit knüpfen die Mindestanforderungen an das an, was als wissenschaftlich begründete Standards politisch bereits akzeptiert ist (BMFSFJ & JFMK, 2016):
1. Qualifikation: Alle Personen, die in einer Kindertageseinrichtung arbeiten, brauchen eine pädagogische Qualifikation. Neben staatlich anerkannten Erzieher:innen können übergangsweise Personen arbeiten, die eine pädagogische Grundschulung mit einem Mindestumfang von 200 Stunden durchlaufen haben. Sie benötigen Grundkenntnisse über Entwicklungspsychologie, Kinderschutz, pädagogische Interaktion und pädagogische Haltung. Danach darf diese Person nur zusammen mit einer staatlich anerkannten Fachkraft tätig werden und muss sich berufsbegleitend weiterqualifizieren. Solche nicht voll qualifizierten Hilfskräfte können kurzfristig zur Linderung des Fachkräftemangels beitragen, mittelfristig müssen die Personalschlüssel verbessert werden und langfristig die Ausbildungssituation, wobei alle Maßnahmen möglichst schnell und jetzt begonnen werden müssen.
2. Fachkraft-Kind-Relation: In jeder Gruppe müssen mindestens 2 qualifizierte Erwachsene mit staatlich anerkannter pädagogischer Ausbildung gleichzeitig anwesend sein, davon eine mit einer Qualifikation mindestens auf Fachschulniveau. Als Schwellenwerte für ein Mindestmaß an pädagogischer Qualität hat sich in der Forschung eine Fachkraft-Kind-Relation für Unterdreijährige von 1:4 und für Kinder zwischen 3 und sechs Jahren von 1:9 gezeigt. Werden diese Schwellenwerte unterschritten, entwickeln sich die Kinder nachweislich ungünstiger. Um die notwendigen Fachkraft-Kind-Relationen gewährleisten zu können, sind in die Personalschlüssel zusätzliche Zeitvolumen für die mittelbare pädagogische Arbeit sowie zur Kompensation der Ausfallzeiten (Urlaub, Fortbildung, Krankheit) hinzuzurechnen. Pädagogischen Herausforderungen durch viele Kinder mit Sprachförderbedarf, aus sozioökonomisch benachteiligten Lebenslagen oder mit (drohender) Behinderung ist durch eine entsprechende Verstärkung des Personals zu begegnen (vgl. Viernickel & Fuchs-Rechlin, 2016; BMFSFJ & JFMK, 2016).
3. Rahmenbedingungen: Damit sich die pädagogischen Fachkräfte auf ihre Kernaufgaben, die Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder konzentrieren können, sollten für alle nicht-pädagogischen Aufgaben andere Personen eingesetzt werden (Hauswirtschaft, Verwaltung, Reinigung, Hausmeistertätigkeiten u.a.), die on-top zu finanzieren sind. Zur Kompensation der Ausfallzeiten sollten Vertretungskräfte zur Verfügung stehen. Damit die Leitungskräfte die Einrichtungen professionell leiten und dabei den Fokus auf die Unterstützung und Bindung des pädagogischen Personals richten können, benötigen sie ausreichende Zeitkontingente (vgl. Strehmel, 2016; BMFSFJ & JFMK, 2016). Im Bereich der Verwaltung könnten weniger Vorschriften und digitale Lösungen Entlastung schaffen.
Jetzt Reformen einleiten, um die Zukunftsperspektiven für unsere Kinder zu sichern!
Wir sollten den aktuellen Fachkräftemangel als Chance sehen, das System der frühkindlichen Bildung gründlich zu überdenken. Die Zuständigkeit der Länder und Kommunen sowie die Verantwortung des Bundes muss in eine neue Balance gebracht werden, die sich auch in einer angemessenen finanziellen Ausstattung des gesamten Systems widerspiegelt. Eine qualitativ hochwertige, bedarfsgerechte und verlässliche Kindertagesbetreuung ist unverzichtbare Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie ist damit als Komplementärsystem zur Wirtschaft anzuerkennen. Deren Erträge sowie das Steueraufkommen durch die erhöhte Erwerbsbeteiligung der Eltern sollten zumindest in Teilen in das System zurückfließen. Daher wäre anzudenken, die Wirtschaft in die Finanzierung des Systems der Kindertagesbetreuung einzubinden.
Für den Vorstand der BAG BEK e.V.
Prof. Dr. Tina Friederich, Prof. Dr. Rahel Dreyer, Ulrike Glöckner, Dr. Karsten Herrmann, Anna Jochums, Prof. Dr. Nicole Klinkhammer, Prof. Dr. Petra Strehmel sowie Prof. Dr. Ina Kaul und Verena Winter.
Weitere Stellungnahmen und Positionspapiere siehe https://www.bag-bek.de/bag-bek-ev/grundsatzpapiere-veroeffentlichungen/
Verwendete Literatur
- Anders, Y. & Roßbach, H.-G. r (2019). Qualität in der Kindertagesbetreuung. In: O. Köller, u.a. (Hrsg.): Das Bildungswesen in Deutschland. Bestand und Potenziale (S. 441–470). Klinkhardt: Bad Heilbrunn.
- BMFSFJ & JFMK– Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend & Jugend- und Familienministerkonferenz (2016). Frühe Bildung weiterentwickeln und finanziell sichern. Zwischenbericht 2016 von Bund und Ländern und Erklärung der Bund-Länder-Konferenz. Berlin. Online: https://www.bmfsfj.de/blob/112482/637f7d53eeea62363305df51ace10dba/zwischen-bericht-bund-laender-konferenz-fruehe-bildung-data.pdf.
- KIuczniok, K. (2018). Pädagogische Qualität im Kindergarten. In Th. Schmidt & W. Smidt (Hrsg.): Empirische Forschung in der Pädagogik der frühen Kindheit (S. 407–426). Waxmann: Münster.
- Strehmel, P. (2016). Leitungsfunktion in Kindertageseinrichtungen: Aufgabenprofile, notwendige Qualifikationen und Zeitkontingente. In S. Viernickel, K. Fuchs-Rechlin, P. Strehmel, C. Preissing, J. Bensel & G. Haug-Schnabel (Hrsg.): Qualität für alle. Wissenschaftlich begründete Standards für die Kindertagesbetreuung (S. 131–252). 3., korrigierte Auflage. Freiburg: Herder.
- Roßbach, H.-G. & Spieß, K. (2019): Frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen: Rahmenbedingungen und Entwicklungen. In: O. Köller, u.a. (Hrsg.): Das Bildungswesen in Deutschland. Bestand und Potenziale (S. 409–440). Klinkhardt: Bad Heilbrunn
- Viernickel, S. (2021). Die empirisch gestützte Identifikation struktureller Qualitätsmerkmale und Standards in Institutionen frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung. In O. Bilgi, G. Blaschke-Nacak, J. Durand, T. Schmidt, U. Stenger & C. Stieve (Hrsg.): „Qualität“ revisited. Theoretische und empirische Perspektiven in der Pädagogik der frühen Kindheit (S. 116–132). Weinheim: Beltz Juventa.
- Viernickel S. & Fuchs-Rechlin, K. (2016). Fachkraft-Kind- Relationen und Gruppengrößen in Kindertageseinrichtungen. Grundlagen, Analysen, Berechnungsmodell. In S. Viernickel, K. Fuchs-Rechlin, P. Strehmel, C. Preissing, J. Bensel & G. Haug-Schnabel (Hrsg.): Qualität für alle. Wissenschaftlich begründete Standards für die Kindertagesbetreuung (S. 11–130). 3., korr. Auflage. Freiburg: Herder.
- Viernickel, S., Fuchs-Rechlin, K., Strehmel, P., Preissing, C., Bensel, J. & Haug-Schnabel, G. (Hrsg.) (2016). Qualität für alle. Wissenschaftlich begründete Standards für die Kindertagesbetreuung. 3., korr. Auflage. Freiburg: Herder.